„Du schaffst das!“ – Wie wir das Selbstvertrauen unserer Kinder stärken

24. September 2020

Es gibt zwei Zitate, die mich gerade sehr berühren, als Mama einer kleinen Tochter, die nächste Woche in den Kindergarten kommt, und als Kinder-, Jugend- und Elternberaterin:

„Kinder werden nicht lebensfähig, wenn wir alle Steine aus dem Weg räumen“ – Jesper Juul.
Und: „Es geht nicht darum, Kindern alle Steine aus dem Weg zu räumen, sondern ihnen zu helfen, damit einen Turm zu bauen“. – Ines Berger

Sie berühren mich, weil ich das Gefühl kenne, sein Kind beschützen zu wollen, vor Erfahrungen, die man selbst erstmal als negativ einstuft, vor Streit, davor, ungerecht behandelt zu werden, zu scheitern, obwohl man sich so sehr bemüht hat, vor Angst, Unsicherheit, Wut, davor, sich alleine, zu fühlen.

Aber: All das gehört zu unserem Sein dazu.

Kinder lernen aus Misserfolgen und aus Herausforderungen. Unser Gehirn braucht ein außerhalb-der-Komfort-Zone-sein, um überhaupt einen Ansporn zu haben, etwas Neues zu lernen.

Wenn wir unser Kind nicht außerhalb seiner Komfort-Zone sein lassen können, verweigern wir ihm aus neurobiologischer, spiritueller und entwicklungspsychologischer Sicht also wichtige (Lern-)Erfahrungen. Wir verweigern ihm Wachstum. Wir kappen ein Stück Potenzial. Wir verwehren ihm, zu erfahren: „Ich schaff das schon!“.
Und, noch viel schlimmer: Wir signalisieren ihm: „Du kannst das nicht!“

Babys kommen mit einem wahnsinnigen Urvertrauen in sich zur Welt. Sich drehen, krabbeln, laufen lernen, all das haben sie vorher noch nie gemacht, aber sie versuchen es, total selbstverständlich. Wenn sie hinfallen, stehen sie wieder auf und versuchen es noch einmal. Sie versuchen es so lange, bis sie es schaffen. Niemand hat ihnen je gesagt, dass sie etwas nicht können.

Beim klettern, Stufen erklimmen, anziehen, Zähne putzen… sieht das oft schon anders aus. „Du kannst das noch nicht“, „Das ist zu hoch für dich“. Je älter Kinder werden, umso weniger scheint ihnen die Gesellschaft zuzutrauen. Wie viele Kinder lösen Konflikten mit Lehrpersonal oder mit Klassenkameraden selbst? Wie vielen Kindern/Jugendlichen wird zugetraut, alleine zu lernen, sich Lernstoff einzuteilen, eigenverantwortlich mit ihrem Geld umzugehen, mit Medien umzugehen?

Die Voraussetzung für Selbstvertrauen ist, sich-etwas-zuzutrauen. Nur wenn ich schwierige, neue, ungewohnte Situationen meistere, entsteht neues Vertrauen in mich, in meine Fähigkeiten. Selbst wenn ich scheitere, wenn ich negative Erfahrungen mache und damit umgehen kann entsteht Vertrauen in mich, sogar ein sehr wichtiges: „Ich kann mit allem umgehen. Ja, ich bin dann vielleicht traurig, wütend, enttäuscht, aber ich kann das aushalten.“ – Was kann noch passieren, wenn man dieses Grundvertrauen in sich hat?

Dafür jedoch brauchen Kinder das Gefühl und die Bestätigung, dass ihnen ihre Eltern etwas zutrauen: „Du machst das schon!“, „Du kannst das!“. Diese Sätze machen etwas mit ihnen, sie geben ihnen Mut, Vertrauen, Motivation, neues zu versuchen, das Gefühl ich-kann-das.

Umgekehrt: immer, wenn wir unser Kind vom Klettergerüst runterheben, weil wir Angst haben, es könne abstürzen, immer, wenn besser wir den Konflikt mit der Lehrerin/dem Lehrer für unser Kind lösen, weil wir denken, dass es dafür noch zu jung ist, immer, wenn wir mit Eltern anderer Kinder sprechen, wenn dieses Kind gemein zu unserem war, ist die darunter liegende Message: „Du kannst das noch nicht“, „Du bist noch zu klein“, „Du brauchst meine Hilfe“, „Du brauchst es gar nicht erst versuchen“.

Auch das macht etwas mit unserem Kind. Es prägt sein Selbstbild.

Wenn Eltern ihre Jugendlichen kontrollieren, wenn sie besser wissen, wann Schularbeiten sind und wie viel dafür zu lernen ist, wenn sie Lehrer*innen zur Rede zu stellen, sagen sie damit: „Du kannst das nicht alleine, du brauchst mich. Ich muss es für dich lösen, weil du nicht weißt, wie es geht“.

Wie sollen Kinder mit dem Gefühl aufwachsen, dass sie mit allen Situationen gut umgehen können (Resilienz), dass es Lösungen finden kann, dass es sich auf sich verlassen kann, wenn wir unser Kind gar nicht erst in solche Situationen kommen lassen?

Überlegt einmal, was es für einen riesen Unterschied macht, wenn unser Partner/unsere Partnerin zu uns sagt: „Oh, wow, du möchtest Gerupfter Bouillabaisse-Lachs mit Petersilien-Labneh für 12 Leute kredenzen – coole Idee, wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid“.
Oder, alternativ: „Bist du verrückt? Das hast du ja noch nie gemacht, woher sollst du das können? Lass uns lieber Pizza bestellen, da gehen wir auf Nummer sicher!“
Was spürt ihr in euch, wenn ihr euch beide Situationen vorstellt? Mut, Selbstvertrauen, Freude? Oder Unsicherheit, Angst, das Gefühl, nicht gut genug zu sein?

Wie toll wäre es, wenn wir unseren Kindern Mut, Selbstvertrauen und Freude mitgeben, statt Unsicherheit und Angst?

Wenn wir ihnen das Gefühl vermitteln, dass sie alles erreichen können? Wenn wir aufhören, unsere Begrenzungen auf sie zu übertragen?

Unseren Kindern steht die ganze Welt offen. Wenn wir keine Glasglocke (die „Du kannst das nicht“-Glasglocke) auf sie setzen, wenn wir sie nicht begrenzen, wenn wir sie stattdessen stärken, für sie da sind als eine Art „Back-Up“, dann geben wir ihnen die allerbesten Voraussetzungen mit, dass sie tatsächlich alles erreichen können.

Natürlich sollt ihr euer Kind vom Klettergerüst holen, wenn es tatsächlich gar nicht mehr runterkommt, aber vielleicht kann es das vorher mit eurer Ermutigung selbst versuchen, oder vielleicht reicht ihm schon das Wissen, dass ihr dabeisteht und ihm nichts passieren kann. Wie großartig ist die Erfahrung, dass man von so einem hohen Gerüst alleine wieder runterkommt, obwohl man vorher Angst hatte, dass man etwas schafft, was vorher unmöglich erschien?

Natürlich dürft ihr euch auch bei Kindern einmischen, wenn ihr merkt, sie können Konflikte nicht selbst lösen, aber sprecht nicht das Urteil, sondern zeigt ihnen vor, wie sie zukünftig selbst Konflikte lösen können und bindet sie dabei ein. Nehmt sie mit zum Lehrer*innengespräch oder, noch besser, lasst sie das Gespräch führen und seid einfach nur als Unterstützung dabei.
Gebt die Verantwortung für den schulischen Erfolg euren Jugendlichen zurück. Immer mit dem Beisatz: „Wenn du etwas brauchst, bin ich für dich da!“

Wenn wir ihnen alle Steine aus dem Weg räumen, wie unser Mama- oder Papa-Herz das vielleicht gerne täte, nehmen wir ihnen die Chance, zu wachsen. Wir nehmen ihnen die Chance Selbstvertrauen, Eigenverantwortung und Frustrationstoleranz zu entwickeln.

Lasst uns unseren Kindern also lieber mitgeben, dass es okay ist, wenn Steine in ihrem Weg liegen, dass sie damit umgehen können, egal, wie groß die Steine sind. Und fragen wir sie, was sie von uns brauchen, damit sie aus diesen Steinen etwas Wunderschönes bauen können.